Wir sind aus Erde erschaffen und gehen zur Liebe

Wir sind aus Erde erschaffen und gehen zur Liebe

Er nahm eine Handvoll Erde auf und betrachtete jedes einzelne Körnchen. War dies nicht die Erde, auf dem er stets umherwanderte, unter seinen Füßen zertrat, ohne sich über dessen Existenz im klaren zu sein und sich abstaubte, falls etwas hiervon auf seiner Kleidung landete?

 

„Erde“, sagte er, „Erde!“ Das Material, aus dem der Menschen erschaffen wurde und der Grund, weshalb Menschen sich streiten, um immer mehr davon zu besitzen. Für den Besitz von Erde kämpfen Menschen seit Jahrhunderten, ganze Völker löschen sich gegenseitig aus. Der wahre Grund für jeden geführten Krieg der Menschheit. Die Erde, in der am Ende jeder ruht, der nach ihrem Besitz strebt. Die Erde, die jedem Lebewesen einen Platz bietet und keinen endgültigen Eigentümer besitzt.

 

Auch wenn die Farbe der Erde in jeder Klimazone verschieden ist, so sind es stets die gleichen Bestandteile. Auch wenn niemand es realisiert, ist die Erde das Symbol des Lebens. Pflanzt man einen Samen in die Erde, so bietet sie dem Samen einen Lebensraum. Zugleich ist es der feste Boden für alle Lebewesen, die darauf wandeln. Zusätzlich ist es ein Schutz für alles, was in ihr begraben ist.

 

Die Erde zieht keinen zur Rechenschaft, weil ihre Existenz nicht wahrgenommen wird. Es wird weder Kritik geäußert noch Lob erwartet. Für Menschen, die die Erde wertschätzen, ist es besonders fruchtbar, aber auch die undankbaren benachteiligt sie nicht, wie eine gütevolle Mutter. Der türkische Volkssänger Aşık Veysel beschreibt die Bindung aus Liebe zwischen Menschen und Erde wie folgt:

 

Wie viele Menschen umarmte ich als Freund,
Mein treuer Freund ist die schwarze Erde.
Ich irrte zwecklos umher, erschöpfte unnötig
Mein treuer Freund ist die schwarze Erde.

 

Die Erde ist der Freund, ohne Feindschaft, ist gültig und geduldig…

 

In vielen alten Religionen war die Erde auch die letzte Ruhestätte von Verstorbenen. Der Leichnam wurde der Erde übergeben. Die Erde umschließt jeden Toten, wie die zuneigungsvollen Arme einer liebenden Mutter.

 

Die Erde, ist eben die Erde und dient dem Zweck, weshalb sie erschaffen wurde.

 

Während er so tiefgründig sinnierte, fokussierte er sich auf sich und die Sinnlosigkeit seines Lebens. „Und wir?“, murmelte er fröstelnd. „Wir sind zwar Menschen, doch wie sehr konnten wir dem Zweck, weshalb wir erschaffen wurden, entsprechen?“ bedauerte er innerlich. „Was war denn gleich der Zweck, weshalb der Mensch erschaffen wurde?“

 

Er bemerkte, dass seine Hand schmerzte, weil er die Erde zu lange trug und ließ es fallen. Die schmerzende Hand massierte er mit seiner anderen. Während er versuchte, die Erde zwischen seinen Fingern zu säubern, dachte er innerlich: „Meine Nägel kann ich später waschen“.

 

Er saß immer noch auf dem Boden. Er wollte sich nicht auf den Weg machen, den er geplant hatte. Der Grund hierfür sind die Gedanken, die in seinem Kopf wirbelten.

 

Er versuchte sich daran zu erinnern, wo er stehen geblieben ist. Denn wenn seine Konzentration einmal nachließ, benötigte er Zeit, um sich erneut fokussieren zu können. Er starrte auf die Erde, in der Hoffnung sich erinnern zu können.

 

Der Mensch glaubte daran, aus der Erde erschaffen worden zu sein, weshalb der Grund für seine Existenz ja mindestens genauso nobel sein musste, wie das der Erde. Welches Gefühl machte den Menschen zu einem Menschen? Welches noble Gefühl war es, das in jedem Menschen vorhanden war und ihm zu einem Vernunftwesen qualifizierte?

 

Er hob den Kopf und blickte in Richtung des Baumes vor ihm und dessen frisch erblühte Blätter. Da der Frühling zu Ende war, hatte der Pflaumenbaum seine Blüten verloren und versuchte seine Früchte mit den frisch erblühten Blättern zu verstecken. Zwei Schwalben landeten nacheinander auf den Ästen des Baumes und riefen einander durch ihr Zwitschern. Man musste kein Vogelgezwitscher verstehen können, um deren Bestreben zu erfahren. Er grinste und richtete seinen Blick gegen den Himmel, so als ob er auf eine Antwort auf seine Frage suchte. Vom langen Sitzen auf dem Boden taten ihm die Beine weh, weshalb er sie ausstreckte und seinen Rücken durchstreckte. Aufgrund seiner Bewegung flogen die Schwalben panisch davon.

 

„Liebe“, sagte er, „Genau. Das nobelste Gefühl des Menschen ist die Liebe.“ Allein durch die Erwähnung des Wortes spürte er eine Wärme in seinem Innern und ein Lächeln zierte sein Gesicht. Die Liebe war wie ein Heilmittel für jeden, der es fühlte. Sein Herz erwärmte sich allein bei dem Gedanken an Liebe. Natürlich, wie konnte denn ein Herz kühl sein, das liebte. Jeder Mensch hat in einem Lebensabschnitt die Liebe erfahren.

 

Die Liebe war genauso wie die Erde. Jeder hatte auf irgendeine Weise einen Bezug zur Liebe, auch wenn ihre Existenz im stressigen Alltag nicht wahrgenommen wurde. Jedoch führte die Abwesenheit von Liebe zu Chaos. Auch wenn man keine Liebe besaß, so umschloss dessen Wärme einen. Man konnte zwar die Liebe empfinden, sie jedoch nicht besitzen.

 

Die Liebe harmonierte mit jedem Menschen anders. Jeder liebte anders. Einige wollten den Geliebten als Geisel nehmen, andere wollten den Geliebten gütig beschützen, wie der Pflaumenbaum seine Früchte, wieder andere hatten ihre Geliebten betrogen, wie der Efeu, der am Stamm des Baumes empor wuchs und einige wenige ließen ihre Geliebten frei fliegen, für deren Freude und flogen lediglich nebenher. Und wer wusste, wie viele verschiedenen Arten von Liebe noch existierten.

 

Wenn die Liebe vorhanden war, machte sie auf ihre Existenz nicht lauthals aufmerksam. Jedoch war die Abwesenheit von ihr stets schmerzhaft. Ein Gefühl, deren Existenz man nicht wahrnahm, bei deren Abwesenheit man aber ein Bedürfnis nach ihr spürt und bei deren Verlust alles seinen Sinn verliert. Alles ist vergänglich in diesem Leben, was bleibt, ist die Liebe, das Lieben und das Geliebt werden. Dies beschrieb der Dichter und Philosoph Fuzûlî in seinem berühmten Gedicht:

 

„Ich bin zufrieden mit dem Kummer der Liebe, Heiler! Verschreib mir keine Medizin. Mein Verderben wird das Gift, was du mir gegen den Kummer verschreibst.“

 

Trotz jeglicher Schwierigkeiten, Trauern und Schmerzen erfreut sich der Mensch in seinem Leben am meisten an der Liebe.

 

Wie muss denn die Liebe sein, sodass dies dem Zweck der Erschaffung des Menschen entspricht? Wie diente die Erde diesem Zweck? So wie die Erde Wasser benötigt, um Früchte zu tragen, so benötigt die Liebe Zuneigung, um nicht auszudörren. Hierbei ist die richtige Menge zu beachten. Die Liebe sollte anderen nicht auf die Nase gebunden, jedoch trotzdem realisiert werden können.

 

Er dachte an die geliebten Menschen in seinem Leben und an die, die er nicht liebte. Er realisierte, dass er jedem Lebewesen und Gegenstand in seinem Leben gegenüber Liebe empfand. Einigen aus einem Bedürfnis heraus, einigen aus Mitleid, einigen aus Leidenschaft und wieder anderen bedingungslos.

 

Schön zu lieben, war die größte Kunst. Ohne zu verletzen, ohne verletzt zu werden, weder die eigene Persönlichkeit einzubüßen noch die Persönlichkeit des Gegenübers als Geisel zu nehmen. So zu lieben, wie die Person war.

 

Die Liebe muss innig sein, jedoch nicht gewöhnlich. Sie muss aus dem Herzen kommen, nicht zur Vorführung dienen. Sie muss empfunden werden aus dem Herzen, nicht ein spontanes Gefühl. Sie muss treu, geduldig, erwartungslos, zuneigungsvoll und gütig sein. Der Liebende muss sich bedenkenlos mit dem Geliebten vereinen können. Die Liebe muss der Existenz des Einzelnen einen höheren Sinn verleihen. Auch wenn intimere Details geheim gehalten werden, so muss die Liebe als Ganzes aufgefasst werden.

 

Schließlich sind wir Menschen, wir wurden aus Erde erschaffen und werden wieder zur Erde zurückkehren.

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